Das Ende der Welt

Lakota-Geschichte erzählt von Jenny Leading Cloud der Rosebud Reservation in Süd Dakota an Richard Erdoes in 1967.

Irgendwo an einem Ort, wo die Prärie und die Maka Sicha -die Badlands- zusammentreffen gibt es eine verborgene Höhle. Seit langer, langer Zeit war niemand in der Lage sie zu finden.

Selbst jetzt, mit so vielen Highways, Autos und Touristen, bleibt diese Höhle unentdeckt. In dieser Höhle lebt eine Frau, die so alt ist, dass ihr Gesicht wie eine verschrumpelte Walnuss aussieht. Sie ist in Leder gekleidet … so, wie die Menschen sich kleideten, bevor der weiße Mann kam. Sie sitzt dort seit mehr als Tausenden von Jahren; arbeitet an einer Streifendecke für ihre Büffelrobe. Sie glättet die Streifen aus gefärbten Stachelschweinborsten, nach der Tradition ihrer Vorfahren, bevor die weißen Händler die Glasperlen zum Schildkröten-Kontinent brachten.

Neben ihr liegend, seine Pfoten leckend, beobachtet sie die ganze Zeit Shunka Sapa – ein großer schwarzer Hund. Sein Blick bleibt bei der alten Frau, deren Zähne nur noch kleine abgewetzte Stümpfe sind, weil sie schon so viele Stachelschweinborsten geglättet hat.
Ein paar wenige Schritte entfernt, wo die alte Frau an ihre Decke handarbeitet, brennt in einer Feuerstelle ein großes offenes Feuer. Sie zündete das Feuer vor Tausenden oder mehr Jahren an und hält es seit dieser Zeit immer am Brennen.

Über dem Feuer hängt ein großer Tontopf, die Art von Tontöpfen, die die indianischen Völker benutzten, bevor der weiße Mann mit seinen Metalltöpfen kam. Wojapi kocht und sprudelt im Topf. Wojapi ist eine Beerensuppe, lecker und süß und rot. Die Suppe im Topf kocht schon seit langer Zeit, seitdem das Feuer angezündet wurde.

Hin und wieder steht die alte Frau auf, um im großen Tontopf die Wojapi umzurühren. Weil sie so alt und schwach ist, dauert es eine Weile, bis sie aufstehen und zum Feuer humpeln kann. In dem Moment, wo sie ihren Rücken kehrt, beginnt Shunka Sapa- der große schwarze Hund- die Stachelschweinborsten aus ihrer Decke zu zupfen. Darum kommt sie mit ihrer Handarbeit nicht weiter und ihre Quillwork bleibt für immer unvollendet.

Die Sioux-Menschen erzählen sich, wenn die alte Frau jemals mit ihrer Decke fertig ist, wird in dem Moment, dass sie mit der letzten eingefädelten Stachelschweinborste ihre Handarbeit fertigstellt, die Welt zu einem Ende kommen wird.

Quelle: Erdoes, Richard und Ortiz, Alfonso. American Indian Myths and Legends, Pantheon Books, New York, 1984.